Trance und Heilung – Unbekannte Rituale in Indien

Ausstellungsdauer: 20.5. – 30.9.2005
Museum für Völkerkunde, Leipzig
Fotoausstellung von Cornelia Mallebrein

Die Ausstellung „Trance und Heilung ‑ unbekannte Rituale in Indien“ basiert auf den Resultaten zahlreicher Feldforschungsreisen von Cornelia Mallebrein, Universität Tübingen, in den letzten zwanzig Jahren. Dabei kam dem Medium der Fotografie ein bedeutender Stellenwert zu. Dem Betrachter ermöglicht die Fotografie ein tieferes Verständnis indigener Rituale und Kulte die außerhalb Indiens kaum bekannt sind, aber einen unverzichtbaren Teil des reichen kulturellen Erbes Indiens bilden. Sie ist daher ein ideales Medium der interkulturellen Kommunikation. Die Ausstellung möchte ein zentrales Thema innerhalb der regional sehr unterschiedlichen Religionen Indiens näher beleuchten und in seiner Vielfalt vorstellen‘, das der „lebenden Gottheiten auf Erden“, eine seit Jahrhunderten praktizierte Tradition, die auch im heutigen Indien noch sehr lebendig und aktuell ist.

In Indien ist die faszinierende Konzeption der „lebenden Gottheiten auf Erden“ ein häufiges und gesellschaftlich bedeutsames Phänomen. Man begegnet ihm überall, in städtischer, dörflicher und tribaler Umgebung, in allen Gesellschaftsschichten. Göttliche Energie wird von den Gläubigen als transzendent und zugleich allem immanent erfahren. Für sie ist nicht ein von der Welt weit entfernter puranischer Himmel die ausschließliche Wohnstatt der Götter, vielmehr manifestieren sich diese selbst unter den Menschen in unterschiedlichster Form, bevorzugt in der eines Mediums. Die von der Gottheit ausgewählte Person wird in einem Zustand veränderter Bewusstseinserfahrung zur „lebenden Gottheit auf Erden“.

Diese Gottheiten auf Erden in menschlicher Gestalt können nun direkt angesprochen werden, man kann sich an sie wenden, gelten sie doch als real anwesend. Sie sind bereit die Wünsche und Gelübde, die an sie gerichtet werden, entgegenzunehmen. Das Medium wird dadurch zum Sprachrohr des Göttlichen, zu einem Kommunikationskanal zwischen Mensch und Gottheit. Dabei kommt den Heilungsritualen ein großer Stellenwert zu. Diese Gottheiten in menschlicher Gestalt spielen ihr „göttliches Spiel“ auf Erden, und jeder kann daran teilnehmen. Während dieser Momente erleben Gläubige das Gefühl, dass sie vom „Wind“ der Gottheit ergriffen sind, eine intensive, starke und zugleich ekstatische Empfindung. Bei diesem „göttlichen Spiel“ verschmelzen göttliche und menschliche Sphäre, sie werden eins.

In der heutigen, sich schnell verändernden Zeit gewinnt die Tradition der „lebenden Gottheiten auf Erden“ erstaunlicherweise zunehmend an Bedeutung. Dies trifft auch für den städtischen Bereich und die Bildungsschicht zu. Zahlreich sind die Nachrichten, dass eine Gottheit ‑ in den meisten Fällen eine Göttin ‑ von einer Person Besitz ergriffen hat, die im Zustand der Trance zu deren Verkörperung auf Erden wird. Die große Bedeutung dieses Phänomens im heutigen Indien zeigt das Bedürfnis vieler Menschen nach direkter Kommunikation mit dem Göttlichen. In seiner Rolle als Repräsentant einer Gottheit kommt dem Medium eine wichtige soziale Funktion und zugleich große Verantwortung zu. Viel psychologisches Verständnis, Empathie und Gerechtigkeitssinn wird von ihm verlangt. Während heutzutage die Probleme und Sorgen unseres Lebens ausgewiesenen Spezialisten wie Ärzten, Psychologen oder Rechtsanwälten anvertraut werden, vereinen für die Gläubigen die „lebenden Gottheiten auf Erden“ die zahlreichen Funktionen dieser Autoritäten in sich. Für die Gläubigen liegt die Wichtigkeit der Antworten des Mediums in der Überzeugung, dass die gegebenen Ratschläge und Vorschläge unerschütterliche göttliche Autorität besitzen, die mit tieferer Einsicht und größerem Verständnis ausgestattet ist, als sie ein menschliches Wesen jemals erreichen kann. Das göttliche Auge sieht und entdeckt alles: nichts kann vor ihm verborgen bleiben.

Die Ausstellung „Lebende Gottheiten auf Erden“ ist in vier Themenbereiche unterteilt, die insgesamt zehn charakteristische Varianten von göttlichen Manifestationen in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Karnataka und Orissa näher beleuchten und vorstellen. Jede dieser regionalen Traditionen hat ihre ganz spezifischen Charakteristika und Ausprägungen, eng verbunden mit einem sie kennzeichnenden soziokulturellen, historischen, aber auch ökologischen Kontext. Die Vielfalt der Rituale beeindruckt durch ihre Vitalität, Farbigkeit und tiefe religiöse Ausdruckskraft. Der erste der vier zentralen Themenbereiche der Ausstellung trägt den Titel „Die uranfängliche göttliche Energie ‑ ihre sichtbare Manifestation in der Welt der Menschen“. Dieses Thema ist um die Frage zentriert, wie sich die göttliche Kraft in der Welt der Menschen zu erkennen gibt und wie sie dann auf den Menschen übertragen wird.

Der ersten Abschnitt mit dem Titel „Der aus sich selbst entstandene Stein“ richtet den Blick auf ein Phänomen, das für ganz Indien charakteristisch ist und ein Schlüsselelement in der Formierung eines Kults darstellt: die Gottheit wird als durch sich selbst in Erscheinung getreten konzipiert. Sie zeigt sich den Menschen in der Form eines aus sich selbst entstandenen Steins. Indem das Medium diesen Zur Person | Forschung | Weitere Projekte | Stein berührt, wird es mit göttlicher Energie erfüllt, die ihm die Kraft verleiht, Krankheiten zu heilen und für Fruchtbarkeit zu sorgen.

Der zweite Abschnitt, „Aus dem tiefen Dschungel ‑ in die Welt der Menschen“, zeigt die Stammesgöttin Patkhanda die einmal im Jahr ihre Wohnstatt im Wald verlässt um sich ganz dem Wohlergehen ihrer Anhänger zu widmen.

Im dritten Abschnitt, „Die Kraft des Schwerts“, geht es um die Bedeutung des Schwertes innerhalb der Panda‑Tradition von Madhya Pradesh. Das Schwert repräsentiert die Shakti, die weibliche göttliche Energie. Insbesondere die Göttinnen Durga und Kali werden mit dem Schwert assoziiert, das für die Gläubigen deren Energie enthält. Zweimal in der Woche, wenn der Panda in seiner Rolle als Medium das Schwert der Göttin Kali berührt und in die Hände nimmt, dringt deren göttliche Energie in seinen Körper ein. Nun repräsentiert er die Göttin auf Erden.

Der vierte Abschnitt, „Die Kraft der Maske“, lenkt das Augenmerk auf die farbenfrohen und faszinierenden Bhuta‑Traditionen in Tulunadu in Karnataka. Gekleidet in ein prächtiges und beeindruckendes Ritualkostüm, repräsentiert der Tänzer einen bestimmten Bhuta oder Daiva, halbgöttliche Wesenheiten. Es ist die Maske, die der formlosen Wesenheit ein Gesicht und damit eine Identität verleiht. Ein Priester in Trance platziert die mit göttlicher Energie aufgeladene Maske auf das Gesicht des Darstellers, und damit beginnt das „göttliche Spiel“ auf Erden.

Der fünfte Abschnitt, „Natur und Farben -Manifestationen göttlicher Energien“, zeigt die Bedeutung bestimmter Blätter und Farben in der Verehrung und unmittelbaren Erfahrung göttlicher Energien.

Das zweite Hauptthema, „Das Medium ‑ Verkörperung des Göttlichen auf Erden“, hat als Schwerpunkt die tribalen Traditionen in Chhattisgarh und Orissa. Die unzähligen lokalen Gottheiten von Bastar und den angrenzen Regionen werden von den Sirhas repräsentiert. Im Zustand der Trance trägt der Sirha, das Medium, eine besondere Ritualkleidung und hält die für die Gottheit charakteristischen Attribute in den Händen. Diese göttlichen Erscheinungen in menschlicher Gestalt waren Inspirationsquelle für die Metallgießer dieser Region, bekannt durch ihre abstrakten Götterdarstellungen aus Messing.

Das dritte Hauptthema, „Vom Wind‘ der Gottheit ergriffen“, beleuchtet ein faszinierendes und ergreifendes Fest für den Hirtengott Mallanna in einem kleinen Dorf in Karnataka. An diesem Tag feiert der Gott seine Hochzeit, und, überwältigt vor Freude, nehmen seine Anhänger das Verhalten von Hunden und Pferden an, Mallannas treueste Begleiter. Im Abschnitt „Furchtlose Kämpfer für Gott“ geht es um die Tradition der Puruvantas von Kamataka, besonderen Anhängern des unbändigen Gottes Virabhadra.

Die Ausstellung schließt mit dem Thema „Gespräche mit den Bewohnern einer jenseitigen Welt“. Die männlichen und weiblichen Schamanen der Stammesgruppe der Lanjia Sora in Orissa leben in zwei Welten, der Welt der Menschen und der Welt ihrer spirituellen Partner. Sie sind ein Kommunikationskanal zwischen dieser und der jenseitigen Welt